Dr. h.c. Gernot Erler MdB beim SPD-Ortsverein Balingen „Das Problem ist, dass wir nicht wissen, was Putin vorhat“

Wer die Haltung Russlands im gegenwärtigen Konflikt mit der Ukraine verstehen will, der muss recht weit und sehr tief in die Geschichte dieses Landes zurückblicken. Und er muss differenzierte Sichtweisen auf das Verhalten Russland zulassen. Soweit die Analyse des SPD-Bundestagsabgeordneten Gernot Erler, Staatsminister a.D., der als Koordinator der Bundesregierung für Russland und die Staaten der Östlichen Partnerschaft, wie nur wenige über die gegenwärtige Krise und die Aussichten auf Befriedung berichten kann. So war Erler der Einladung des SPD-Ortsvereins Balingen gefolgt und referierte am Montagabend im Zollernschloss. Sein Fazit: politische Lösungen müssen her – militärische Interventionen helfen keinem weiter.

Dass er gelegentlich als „Russland-Versteher“ abgetan wird, störe ihn wenig; in der Tat müsse man dieses Land, seine Kultur und seine Geschichte verstehen, so Erler, um einschätzen zu können, welches die Hintergründe aber auch die Auswege raus aus der anhaltenden Krise sind. „Nach wie vor herrscht eine mentale Nicht-Anerkennung der Ukraine als eigenständiges Land“, so der SPD-Politiker und zwar innerhalb der Moskauer Polit-Führung als auch in weiten Teilen der Zivilgesellschaft. Dass im März dieses Jahres Russland die Krim annektierte, sahen die meisten Russen und auch viele Ukrainer als eine Heimkehr in die russische Heimat. Durch die umstrittene Unabhängigkeitserklärung und das Referendum über ihren Status beanspruche Russland seitdem die völkerrechtliche Zugehörigkeit der Halbinsel. Die Ukraine dagegen betrachte die Krim weiterhin als Bestandteil des eigenen Staatsgebiets – das Vorgehen Russland sei völkerrechtswidrig. An diesem Beispiel, so der Freiburger Bundestagsabgeordnete, das zudem den Anfangspunkt des jüngsten Konfliktes markiert, lassen sich die unterschiedlichen Sichtweisen beider Länder sehr gut aufzeigen.

Als vom Westen gesteuert betrachtete Russland nach wie vor etwa die „Orangene Revolution“, die 2004 in der Ukraine ausgelöst wurde. Und auch die Annährung der Ukraine zur Europäischen Union, die durch das Assoziierungsabkommen, welches der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zusichern soll, in Gang gesetzt wurde, schürt die schlimmsten Befürchtungen Russlands, die ehemalige Sowjetrepublik orientiere sich weg von Russland stärker an den Westen. Dabei sei jenes Assoziierungsabkommen als Alternative der Europäischen Union zu einer Vollmitgliedschaft angedacht worden, die im Übrigen stets von der Ukraine selbst gewünscht wurde und weniger von der Europäischen Union. Auch hier würden unterschiedliche Sichtweisen deutlich werden. Die Ukraine als Teil der Europäischen Union widerspreche Putins Pläne einer „Eurasischen Union“ und damit dem Vorhaben, möglichst alle Ostblock-Staaten wirtschaftlich, politisch und militärisch zu vereinen. Überhaupt, so Erler, müsse man das Verhalten Russlands begreifen können und verstehen wollen: die Erweiterung der Europäischen Union als auch der Nato bis an die Grenzen Russlands, verstoße gegen geltende Verträge und getroffenen Absprachen. Insofern seien Russlands Befürchtungen nachvollziehbar, wenngleich man die Reaktion nicht akzeptieren könne.

Nach den gewaltsamen Zusammenstößen im Februar dieses Jahres befinde sich die Ukraine nach wie vor in einer Zeit der Unsicherheit und des Umbruchs. Nicht nur, dass mit der Krim ein Teil des Staatsgebiets von Russland völkerrechtswidrig annektiert wurde: im Süden und Osten des Landes komme es seit Monaten zu gewalttätigen Ausschreitungen und zu Kämpfen zwischen ukrainischen Sicherheitskräften und pro-russischen Gruppierungen. “Damit hat Russland mehrere rote Linien übertreten“, weiß der Staatsminister a.D. die Situation einzuschätzen. „Russland isoliert sich zusehends selbst, handelt ohne Rücksicht auf das eigene Ansehen“, so Erler weiter, der dies auch als Folge eines Realitätsverlustes bewertet, die der eigenen Propaganda und übertriebenen Großmannssucht geschuldet ist.

Aufgrund der guten Beziehungen zwischen Russland und Deutschland habe Berlin unter Außenmister Frank-Walter Steinmeier eine Führungsrolle in der diplomatischen Vermittlung zwischen Russland, der Ukraine und der Europäischen Union übernommen. Ein Ausblick ist gegenwärtig jedoch schwierig, auch wenn eine auf Vermittlung der OECD eigens eingerichtete Kontaktgruppe, erste kleine Fortschritte aufweisen kann, wie etwa getroffene Waffenstillstandsvereinbarungen. Auch Putins jüngster Aktionsplan zur Lösung des Ukraine-Konflikts mache Hoffnung. „Der Konflikt weist schon heute eine unglaubliche Schadensbilanz auf“, so der SPD-Politiker. Dringend müsse ein Schlusspunkt bei den feindlichen Auseinandersetzungen gesetzt werden. Aber: „Das Problem ist, dass wir nicht wissen, was Putin vorhat“, so Erler, der in seiner Funktion als Koordinator der Bundesregierung für Russland mehrmals mit dem russischen Präsidenten persönlich zusammengetroffen ist. Deutschland lasse die Tür für diplomatische Gespräche offen - sei aber nicht bereit, alle Forderungen Russlands anzuerkennen.

Die Annektierung der Krim etwa, sei ein Verstoß gegen geltendes Völkerrecht; dies müsse Putin klar gemacht werden. Dafür sichere Deutschland zu, einem Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union noch nicht zuzustimmen und einer Aufnahme in die NATO grundsätzlich zu widersprechen. „Ich kann ihnen nicht sagen, ob wir zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zurückfinden“, so Erler, der eine wirtschaftliche Zusammenarbeit für beide Seiten sehr wichtig hält. „Die russische Wirtschaft ist auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der europäischen Union angewiesen“, ist der SPD-Politiker überzeugt. Nahezu die Hälfte des russischen Haushaltes sei durch dich Exporte in den Westen gesichert. Schon heute habe Russland mit einer hohen Inflation zu kämpfen, es erfolgten kaum noch ausländischen Investitionen in das Land, mit einem Wirtschaftswachstum sei Aufgrund des Boykotts und der Folgen des Sanktionen nicht zu rechnen und es setzte unlängst ein Kapitalabfluss in dreistelliger Milliardenhöhe ein. Bis man neue Absatzmärkte für Erdöl und Erdgas finde, vergingen gut und gerne für den Bau von Pipelines bis zu zehn Jahre: „Das hält Russland nicht durch“. Es gäbe aber neben den Sanktionen immer die offene Tür, durch die Russland gehen könne. „Am Ende darf keiner als gefühlter Verlierer vom Platz gehen“, mahnt der SPD-Politiker, weiß aber auch, dass bis dahin noch ein weiter und ungewisser Weg zu gehen ist. Denkbar sei daher auch, dass uns diese Krise direkt in einen neuen Kalten Krieg zwischen Russland und dem Weste führe.